"GRETCHENPROZESS" IN ZWEITER INSTANZ

Neu verhandelt: der Fall der Kindesmörderin S.M.Brandt

Zwei Jahre Gefängnis auf Bewährung – so lautet das Urteil eines "Gerichts", das den Fall der Susanna Margaretha Brandt neu aufgerollt hat. Die junge Frau hatte Goethe zu seiner Gretchen-Figur im "Faust" inspiriert. Der "Prozess" fand an Goethes 249. Geburtstag als Einstimmung zum Jubiläumsjahr 1999 statt.

Frankfurt am Main (pia) Armes Gretchen! Wäre die unglückliche Kindesmörderin im Jahr 1998 für ihre Tat zur Rechenschaft gezogen worden, hätte sie mildere Richter gefunden als zu ihrer Zeit. Zumindest das Leben wäre ihr geblieben, während es im Januar 1772 in grausamer Deutlichkeit hieß, dass sie "mit dem Schwerd vom Leben zum Todt zu bringen und dieses Urtheil fordersamst zu vollziehen seye".

Vom traurigen Schicksal der 24-jährigen Dienstmagd Susanna Margaretha Brandt und ihrer Hinrichtung in Frankfurt war der junge Johann Wolfgang von Goethe bekanntlich seinerzeit so beeindruckt, dass er ihr mit der Gestalt des "Gretchen" in seinem "Faust" ein bleibendes literarisches Denkmal setzte.

Vielleicht hätte es ihn gefreut, daß aus Anlass seines

249. Geburtstags am 28. August 1998 der historische Prozess zur Revision anstand - eine Idee, die im Hinblick auf das

nahende Jubiläumsjahr vom Presse- und Informationsamt der Stadt Frankfurt im Rahmen eines "Goethes-Tages" realisiert wurde.

Dort, wo die Original-Prozessakte des Verfahrens gegen "die Brandtin" in der "Privilegienkammer" des Instituts für Stadtgeschichte in einem stahlwand-gesicherten Tresor bewahrt liegt, ging es nun also erneut um den Kindesmord von 1771 und seine Hintergründe. Als fiktiven Termin der Hauptverhandlung nahm das Frankfurter Schwurgericht den 9.Januar 1772 an, einen Tag, bevor seinerzeit das Todesurteil verkündet worden war.

Der Richter am Hessischen Staatsgerichtshof, Roland Kern, als Vorsitzender, der Leitende Oberstaatsanwalt Hubert Harth und der Frankfurter Rechtsanwalt Rüdiger Volhard als Verteidiger entrollten dabei vor den Zuhörern das Geschick einer jungen Frau, der vor 226 Jahren weder Mitleid noch Verständnis in ihrer Not zuteil geworden sind. Und so geriet selbst die Anklage des Staatsanwalts fast zu einer Verteidigungsrede. Im übrigen gab es einen Staatsanwalt im historischen Prozess noch gar nicht. Es handelte sich damals vielmehr um ein Inquisitionsgericht ohne getrenntes Ermittlungs- und Gerichtsverfahren, bei dem die "Syndici" der Stadt das Urteil sprachen.

Gestützt auf das Geständnis der angeklagten Susanna

Margaretha Brandt, Dienstmagd im Gasthaus "Zum Einhorn" nahe der Stadtmauer, stellte sich folgender Sachverhalt heraus: Ein holländischer Kaufmannsdiener hatte dem recht einfachen

Mädchen, das weder lesen noch schreiben konnte, einige Gläser Wein gegeben und mit der jungen Frau, in ihrem willenlosen Zustand danach, mehrfach Geschlechtsverkehr getrieben. Von Liebe, wie sie Gretchen zu ihrem Faust empfand, kann keine Rede sein, nicht einmal der Name des Mannes ist bekannt.

Doch dann gibt es wieder Parallelen zwischen Wahrheit und Dichtung. Die junge Frau wird schwanger, vertraut sich aber niemand an und fürchtet vor allem die Schande als ledige Mutter. Als die Geburt naht, geht sie in die Waschküche des Gasthauses und bekommt ihr Kind allein und ohne jeden Beistand. In "Panik und Raserei" würgt und kratzt sie das Neugeborene und schlägt es gegen ein Holzfass. Das leblose Kind versteckt sie in einer Ecke im Stall unter Heu und Pferdestreu. Hernach leugnet sie alles Vorgefallene, sowohl vor ihrer Dienstherrin als auch vor ihren Schwestern, die später als Zeuginnen im Prozess aussagten. Nach kurzer Flucht wurde Susanna Margaretha Brandt am 3. August 1771 verhaftet und in den Katharinenturm gebracht, wo sie mehr als fünf Monate gefangen sitzt. Sie bereue ihre Tat zutiefst, heißt es, und bitte Gott Tag und Nacht um Vergebung für die schwere Sünde. Doch Gnade oder Berücksichtigung mildernder Umstände gab es nicht für die Kindesmörderin.

Während der Staatsanwalt anno ‘98 dagegen nicht auf Mord, sondern auf Totschlag in minder schwerem Fall plädierte und eine dreijährige Haftstrafe für angemessen hielt, erklärte Verteidiger Volhard seine Mandantin für absolut schuldunfähig, was durch ein psychiatrisches Gutachten zu beweisen wäre. Er rückte die Analphabetin gar in die Nähe des "Schwachsinns", so dass sie sehr wohl das Bewusstsein ihrer Schwangerschaft verdrängt haben könne und von der Geburt völlig überrascht gewesen sei.

Das Gericht schließlich hielt, wie Vorsitzender Roland Kern verkündete, eine zweijährige Freiheitsstrafe auf Bewährung für angemessen. Allerdings mit Auflagen. So sollte sich die Angeklagte um eine Grundschulausbildung bemühen und auch versuchen, wieder einen Job zu bekommen. Den würde sie brauchen. Denn "Gretchen 1998" wird zwar nicht "durch einen Streich der Kopf glücklich abgesetzt", sondern sie muss die Kosten des Verfahrens tragen. Lore Kämper

(Die zwölfseitige Urteilsbegründung kann unter der Telefonnummer 069/212-31999 angefordert werden.)

Dienstag/8.9.98/35